Leipnik (Mähren)

  Die nordmährische Stadt Leipnik a. d. Betschwa hatte ihre Blütezeit im 16.Jahrhundert; sie ist das heutige tschech. Lipník nad Bečvou mit derzeit ca. 8.000 Einwohnern – nordöstlich von Prerau (Přerov) gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, PD-alt-100 und Kartenskizze 'Tschechien' mit Lipnik/Přerov rot markiert, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei).

 

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Leipnik die fünftgrößte jüdische Niederlassung in Mähren (nach Nikolsburg/Mikulov, Prossnitz/Prostějov, Boskowitz/Boskovice und Holleschau/Holešov). In jener Zeit stellten die Juden zeitweise etwa ein Drittel aller Stadtbewohner.

Erstmals wurde die Existenz von Juden in Leipnik 1454 erwähnt. Bis in die erste Hälfte des 16.Jahrhunderts waren die dort ansässigen Juden Kammerknechte des Königs; danach kamen sie unter die Schutzherrschaft der Herren von Pernstein, die gegen Zahlung jährlicher Gelder ihnen Wohn- und bestimmte Handelsrechte verbrieften. Im Laufe des 16.Jahrhunderts kam es zu weiteren Zuzügen von Juden aus der Umgebung; ihre Behausungen lagen im Innern der Stadt zu beiden Seiten der Stadttore.

Während des Dreißigjährigen Krieges hatte die jüdische Gemeinde schwer zu leiden. Um 1700 soll es 43 von jüdischen Familien bewohnte Häuser und „ein ödes Haus (einen Tempel), ein Gemeindehaus, einen Friedhof, ein Spital und ein Schlachthaus“ gegeben haben.

Aus Konkurrenzgründen kam es laufend zu Streitigkeiten zwischen den christlichen und jüdischen Kaufleuten; durch zusätzliche Abgaben erkauften sich die jüdischen Händler ihre Handelsrechte. Als den Juden Leipniks 1723 auch die Ausübung von Handwerken gestattet wurde, kam es zwangsläufig auch zu Konflikten mit der christlichen Handwerkerschaft. Auf Grund weiterer Privilegien steigerte sich die jüdische Zuwanderung noch, sodass gegen Ende des 18.Jahrhunderts etwa 1.000 Juden in Leipnik lebten. Da das ursprüngliche Wohngebiet in der inneren Stadt nicht ausreichte, gründeten die Zuwanderer an der Straße nach Olmütz die „Kolonie Horecko“.

Bereits gegen Mitte des 16.Jahrhunderts soll in Leipnik eine erste Synagoge existiert haben, die im Laufe der Zeit mehrfach erweitert wurde. Das Gebäude gilt als der älteste erhaltengebliebene jüdische Sakralbau in Mähren (der zweitälteste Tschechiens nach der noch älteren Prager Altnai-Synagoge).

Seit dem ausgehenden 16.Jahrhundert bestand in Leipnik ein Rabbinat. Zu den bekanntesten Rabbinern zählten Moses Samson Bacharach (1632–1644), Isaac Eulenburg (1652–1657) und Isaiah b. Shabbetai Sheftel Horowitz (1658–1673). Im 19.Jahrhundert amtierten als Rabbiner Baruch Fraenkel-Teomim (1802–1828), Solomon Quetsch (1832–1854), Moses Bloch (1856–1877) und F. Hillel (1892–1928). Studenten aus ganz Europa besuchten die hiesige Jeschiwa.

Anfänglich erhielten jüdische Kinder in einem Privathause Unterricht, später erbaute man ein Schulhaus an den Schanzen, das 1878/1880 durch einen Neubau ersetzt wurde. Bis Ende des Ersten Weltkrieges stand die jüdische Schule in der Pernsteingasse, vormals Tempelgasse; auch in „Horecko“ bestand zeitweilig eine Schule.

Die Judenschaft Leipniks verfügte über zwei Beerdigungsareale; zunächst wurden die Verstorbenen auf einem Gelände in den Schanzen beigesetzt. Als sich dieses als zu klein erwies, erwarb man von der Stadt ein neues Grundstück in Neustift; hier wurde 1883 neben dem alten Friedhof ein neuer angelegt.

Lipník nad Bečvou, starý židovský hřbitov 7.jpg Lipník nad Bečvou, starý židovský hřbitov 5.jpg

Eingangspforte zum alten Friedhof - zwei alte Grabsteine (Aufn. Palickap, 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

Juden in Leipnik:

          --- um 1540 .........................    36 jüdische Familien,

    --- um 1618 .........................    40 jüdische Familien,

    --- 1654 ............................   365 Juden,

    --- 1794 ............................   975   "   (ca. 28% d. Bevölk.),

    --- 1804 ............................ 1.265   “  ,

    --- 1830 ............................ 1.259   "  ,

    --- 1857 ............................ 1.687   “   (ca. 30% d. Bevölk.),

    --- 1880 ............................   773   “   (ca. 12% d. Bevölk.),

    --- 1890 ............................   362   “  ,

    --- 1900 ............................   534   “  ,*     *davon 294 Pers. in der jüd. pol. Gemeinde

    --- 1910 ............................   380   "  ,*     *davon 206 Pers. in der jüd. pol. Gemeinde,

    --- 1921 ............................   212   "  ,

    --- 1930 ............................   154   “   (ca. 2% d. Bevölk.).

Angaben aus: Hugo Gold, Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart, S. 303

und                  Institut Terezínské iniciativy

1850 wurde die politische Judengemeinde gegründet; ihr stand ein eigenes Rathaus zur Verfügung, in dem auch Rabbinat und eine Mikwe untergebracht waren.

Ab den 1860er Jahren ging der jüdische Bevölkerungsanteil deutlich zurück. Das lag auch daran, dass Tuchmachergewerbe und Viehhandel nicht mehr eine so gewichtige Rolle spielten und damit die Erwerbsmöglichkeiten für die Juden in Leipnik sanken.

Mitte der 1930er Jahre war nur noch eine Restgemeinde vorhanden, die während der Zeit der NS-Okkupation durch die Deportation ihrer Angehörigen im Juni/Juli 1942 völlig aufgelöst wurde. Nur drei der Deportierten sollen überlebt haben.

 

Unmittelbar nach Kriegsende bestand für kurze Zeit eine kleine israelitische Gemeinde. Der fast 500 Jahre alte Synagogenbau - einer der ältesten in Mähren - wurde im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgestaltet, zuletzt Ende der 1940er Jahre; diese zahlreichen Umbauten führten dazu, dass sich das Aussehen des Gebäudes erheblich veränderte. Seit 1949 nutzt die Hussitische Kirche das Gebäude für ihre gottesdienstlichen Zusammenkünfte.


Ehem. Synagogengebäude (Aufn. H., 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) und Innenraum (Aufn. aus: mesto-lipnik.cz, um 2005)

Nahe der Synagoge wurde 2010 ein Denkmal enthüllt, das dauerhaftes Gedenken an die Holocaust-Opfer wachhalten soll.

Die noch auf dem alten Friedhof verbliebenen Grabsteine – das Areal war 1942 von den deutschen Besatzern zerstört worden - wurden nach 1945 zum neuen Friedhof gebracht und dort an der Friedhofsmauer abgelegt. Nach 1989 erfolgte dann eine vollständige Sanierung des alten Friedhofs: Die Umfassungsmauer wurde erneuert und die noch vorhandenen Grabsteine an ihren angestammten Platz gesetzt.

Altes Friedhofsgelände (Aufn. P. 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Aus dem frühen 18.Jahrhundert stammen künstlerisch bemerkenswerte Illustrationen, die der aus dem mährischen Leipnik stammende jüdische Künstler Joseph ben David geschaffen hat. Als Wandermaler war er z.B. auch in Altona und Darmstadt unterwegs und schuf bedeutende Werke.

                           

 Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Wilhelm Wolf Isaak (Ritter von) Gutmann wurde 1826 als Sohn eines Kohlenhändlers in Leipnik geboren. Im Laufe seines Lebens brachte er es – zusammen mit seinem jüngeren Bruder David - zu großem Reichtum: sie besaßen Bergwerke und Hochöfen (die „Krupps der Donaumonarchie“); zusammen mit den Rothschilds war er Besitzer der Witkowitzer Eisenwerke, eines der größten Industrieunternehmen Europa seiner Art. Für ihr soziales Engagement und die Finanzierung verschiedener humanitärer Projekte wurden die Gebrüder Gutmann in den erblichen Ritterstand erhoben. 1891/1892 war der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Wilhelm von Gutmann starb 1895 in Wien.

 

 

 

Weitere Informationen:

Fiewel Hillel, Die Rabbiner der Leipniker Gemeinde im 17., 18.und 19.Jahrhundert, Mährisch Ostrau 1928

Fiewel Hillel (Bearb.), Geschichte der Juden in Leipnik, in: Hugo Gold, Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart, Jüdischer Buch- und Kunstverlag, Brünn 1929, S. 301 - 306

Hugo Gold, Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden Mährens, Olamenu-Verlag, Tel Aviv 1974, S. 77

The Jewish Community of Lipnik nad Becvou (Leipnik), Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/lipnik-nad-becvo

Jaroslav Klenovský, Židovské památky Lipníku nad Becvou [Jüdische Denkmäler in Leipnik], Olomouc 2000

Michael Laurence Miller, Rabbis & Revolution - The Jews of Moravia in the Age of Emancipation, Stanford 2011

Stadt Lipnik nad Becvou (Hrg.), Jewish Population of Lipnik in the 19th and 20th centuries, online abrufbar unter: info.mesto-lipnik.cz (2016)

Kateřina Čapková /Hillel J. Kieval (Hrg.), Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 140, München 2020, u.a. S. 398